Woher weiß ich, was ich sehe, wenn's mir keiner sagt?Wenn Wahrnehmung, Irrtum, Ideologie, Werbung, Selbstzensur und Manipulation sich im Präfrontallappen zur fröhlichen Hofparty treffen, passiert etwas Ungeheuerliches: Die Realität franst aus. Sie ist nicht eindeutig, sie bröckelt, flackert, zerfällt und überlässt es dem Beobachter, sich aus den Resten eine neue Wirklichkeit zusammenzubasteln. Dabei muss es gar nicht mal um hochphilosophische Themen gehen. Die intensivsten Wirklichkeitscluster bilden sich meistens um die banalsten Dinge. Zum Beispiel um diesen blauen Teller mit Gabel. Was ist auf dem Foto zu sehen?»Blauer Teller mit Gabel.« (Klare Wahrnehmung) »Blauer Teller mit Gabel. Brauner Tisch. Essensreste, Tomatenkerne.« (Klare Wahrnehmung mit mehr Zeit) »Blauer Keramikteller mit Metallgabel in romantischem Retro-Design auf einer stark abgenutzten Holzoberfläche. Spuren von Essen auf dem Teller. Tomatenkerne. Salat? Oder Pasta? Ist angetrocknet, steht also schon eine Weile.« (Klare Wahrnehmung mit noch mehr Zeit.) »Mjamm, war lecker!« (Gast) »Unrestaurierter Eichentisch, ca. 1910. Scheunenfund in der Pfalz?« (Antiquitätenkenner) »Ey, voll hässlicher alter Tisch!« (Arschlochkind von gegenüber) Was haben diese Beschreibungen gemeinsam?Alle sind wahr. Denn sie beschreiben wahrheitsgemäß das, was die Betreffenden aus ihrer Perspektive sehen. Was aber passiert, wenn ein Gehirn nicht mehr in der Lage ist zu erkennen, dass es sich um einen benutzten blauen Teller mit Gabel auf einem braunen Holztisch handelt? Weil der Gehirnbesitzer die Deutungshoheit dessen, was er wahrnimmt, längst an fremde Strukturen gelötet und delegiert hat? Zum Beispiel *räusper* eine Political Correctness, die nicht nur diktiert, WAS wir zu sehen haben, sondern auch WIE wir es zu bewerten haben? Eine Kommunikations-Unkultur, die statt das Gesagte ernst zu nehmen und zu verarbeiten reflexartig mit »willst du etwa sagen, dass...?« kontert. Ist bequem. Und praktisch. Muss man sich keine eigenen Gedanken über die Gedanken anderer Menschen machen. Komfortable Deutungsvorgaben der modernen Majestäten gibt’s ja im Überangebot. Dennoch – die Lufthoheit über die eigene Wahrnehmung ist genau das, was ein Individuum auszeichnet. Warum ist es für manche Zeitgenossen so unfassbar verlockend, sich in Interpretationen zu ergehen und darüber das Tatsächliche zu verbiegen? Was ein konditioniertes Gehirn daraus macht:»93% der Bevölkerung finden diesen Teller grün. Nur sieben Prozent sind der Meinung, er sei blau. Der Zentralrat der Tellergrünfinder ist empört und fordert ein Versammlungsverbot für Grünteller-Leugner.« (Aufmacher in deutscher Tageszeitung) »Der Teller ist klebrig und symbolisiert Frigidität.« (Frauenzeitschrift) »Der Teller ist klebrig und symbolisiert Nymphomanie.« (Männerzeitschrift) »Der Teller ist klebrig und symbolisiert, dass kein Spüli mehr da ist.« (Mitbewohnerin) »Spülmaschine kaputt?« (Fauler Pragmatiker) »There is no Gabel.« (Matrix-Fan) »Der Teller ist nicht blau, niemals! Es gibt überhaupt keine blauen Teller! Das ist eine ganz üble rechtsradikale rassistische klimafeindliche Verschwörungstheorie von Blau-Esoterikern und Gabelnazis!« (Wokes Schreikind) »Neues Geschirr ab Samstag für nur 49,90! Garantiert blau!« (Baumarkt-Prospekt) »Undercover-Reporterin Merk B. Freit gelang es, sich in die berüchtigte Kaderschmiede der russischen Blauteller-Jongleurschule einzuschleusen. In unserer Exklusivreportage sehen Sie, welch schreckliche Folgen das harte Training für Menschen und Arbeitsgeräte hat. Unzählige blaue Teller sterben jede Woche einen sinnlosen Tod durch Runterfallen. Auch dieses Exemplar wird bald nicht mehr existieren. Weitere schockierende...« (TV-Moderator um 22:15 Uhr) »Die Gabel liegt rechts mit den Zinken nach oben auf dem Teller. Diese Position offenbart eine offene, freundliche und gesellige Rechtshänder-Persönlichkeit. Läge sie mit den Zinken nach unten, würde dies auf Introvertiertheit, Verlustängste und latente Aggression hindeuten.« (Online-Psychotest) »Experten bestätigen, dass die Gabel in hinterhältiger Weise so platziert wurde, um eine offene, freundliche gesellige Rechtshänder-Persönlichkeit vorzutäuschen. In Wahrheit müsste sie andersrum und mit den Zinken nach unten liegen, denn es handelt sich hier eindeutig um einen gefährlichen Linkshänder, der seine Umgebung durch Gabel-extra-falschrum-Hinlegen böswillig täuscht. Prof. Dr. Hau-Fen Shyce vom Institut für Maindfug erklärt, dass die Zahl der Gabel-extra-falschrum-Hinleger seit Jahren zunimmt und fordert Zwangsjacken, medikamentöse Therapie und rote Teller, um Gabel-Anschlägen vorzubeugen. Ferner werden die Bürger aufgefordert, Gabel-extra-falschrum-Hinleger sowie Blaue-Teller-Benutzer in ihrem Umfeld sofort den Behörden zu melden, auch im Interesse der Kinder.« (Abendnachrichten) »Esst mit Stäbchen, ihr Banausen!« (Vietnamesischer Imbissbesitzer) Blauer Teller vernichtet Raum-Zeit-KontinuumEigentlich wollte ich noch schnell ein Schlusswort schreiben, aber es klingelt grade an der Tür. Draußen stehen fünf Typen in schlechtsitzenden Uniformen. Ein dünner Mann mit extraviel Lametta an der Uniform hält mir eine entsicherte Schusswaffe ins Gesicht und verlangt in hässlicher Tonlage Zutritt zu meiner Wohnung zwecks Konfiszierung einer illegal von mir gebauten und als blauen Teller getarnten Planeten-Vernichtungswaffe. Schrieb ich Planet? Ach was, Universum! Ich bitte Lamettamann und seine Spielzeugfiguren in die Küche, wo noch immer der blaue Teller auf dem Tisch steht, den ich vorhin fürs Titelbild fotografiert habe. Einer der Uniformträger schaut sehnsüchtig in den Obstkorb auf meiner Anrichte, in dem vier Tafeln Mandelschokolade liegen. Ich höre seinen knurrenden Magen. Unsere Blicke kreuzen sich, und Knurrmagen reißt sich zusammen. Wer blaue Planetenzerstörungstellerwaffen einsammeln will, darf keine Schwäche zeigen. Lamettamann steckt seine Waffe weg, geht zum Tisch, nimmt den Teller und – verdampft. Auf dem Küchenboden liegt ein winziges Häufchen Asche mit Glitzer drin. Der Teller schwebt unbeschädigt durch die Küche und landet geräuschlos auf dem Tisch. Die vier noch nicht verdampften Uniformträger stehen da wie schockgefrostet. Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass sich blaue Planetenzerstörungswaffenteller nur von Leuten anfassen lassen, die sich vorher freundlich vorstellen? So eine Universumswaffe hat schließlich auch Befindlichkeiten. Auf den Schreck hin biete ich Knurrmagen und seinen drei recht blass gewordenen Kollegen erstmal Mandelschokolade an, fege Lamettamann weg, koche Kaffee für uns alle und stelle den Teller in die Spüle. Zum Glück hat keiner gefragt, wozu die Gabel da ist. Text & Bild: 2013 & 2025 © Kathrin Elfman. Permalink: https://kathrinelfman.weebly.com/neuigkeiten/blauer-teller Rebloggen/verlinken jederzeit gerne. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie jede Bearbeitung und/oder kommerzielle Weiterverwendung nur nach schriftlicher Genehmigung durch mich. (Ja, ihr einfallslosen Zeilenlauchs, die ihr mir gelegentlich Texte klaut und so tut, als hättet ihr sie selbst geschrieben, aber natürlich früher oder später erwischt, mit Disteln beworfen, gefeuert und durch mich ersetzt werdet, weil euer Chef findet, dass das Original besser ist, genau IHR seid damit gemeint. Also Flossen weg und erst fragen.)
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