8/2/2017 Kolumne: Derfschein für alles mit scharf, oder: Warum eine Arschgeige keine Gesäßvioline sein will.Read Now Plato ging davon aus, dass 95 Prozent des Universums von einer klaren Ordnung und Vernunft beherrscht werden, die restlichen fünf Prozent aber ziemlich auf Krawall gebürstet sind und die kosmische Ordnung stören. Ich mag den Gedanken.
In der Praxis stelle ich mir das so vor: Diese fünf Prozent kommen nachts um halb vier aus der Kneipe, besuchen die Villa eines Frankfurter Waffenhersteller-Mehrheitsaktionärs, schmusen die vier Wachhunde durch, die sich tierisch über die unverhofften Streicheleinheiten freuen, essen alles auf, was das Personal fürs Wochenende in den Kühlschrank gepackt hat, singen laute Lieder, rauchen Selbstgedrehte, tanzen auf dem gewienerten Parkett, einer spielt »Great Balls of Fire«, »Piano Man« und »Bohemian Rhapsody« auf dem unfassbar teuren Konzertflügel, der hinter einer roten Kordel mit »Spielen verboten«-Schild auf dem Podest steht, wo einmal im Jahr ein chinesischer Starpianist eine Vorstandsparty musikalisch untermalen darf. (Mehr Klischees passen nicht in den Satz, aber ich denke, die Metapher ist klar.) Diese fünf Prozent sind schwere Jungs und haben fast überall Hausverbot. Sie repräsentieren das, was kultivierte moderne Menschen gerne verdrängen: eine derbe, rohe Seite des Lebens. Plump, albern, aggressiv, egoistisch, ungezügelt, viel Leidenschaft und Triebhaftigkeit. Da stehen wir nun mit unseren geputzten Zähnen und Ordnungsansprüchen und wissen nicht, wie wir diese fünf Prozent loswerden sollen. Kaum sind sie zur Tür raus, klettern sie zum Küchenfenster wieder rein. Schon den Versuch fassen sie als sportliche Motivation auf, es noch mehr krachen zu lassen! Idee: Wäre es nicht gesünder, wenn wir uns mit ihnen anfreunden würden, statt sie ständig rauszuschmeißen und den Flügel neu stimmen zu lassen? Gründe gäb’s ja genug. Diese fünf Prozent sind nicht nur lästig, sie besitzen auch nützliche und wertvolle Eigenschaften. Zähigkeit, Willenskraft, Durchsetzungsstärke zum Beispiel. Undiplomatische Lebensfreude. Hemmungslosigkeit. Spontane Genussfähigkeit. Und viel, viel Liebe. Deshalb kann man ihnen auch nicht böse sein. Sie haben diese unbändige kindlich-bedingungslose Lebensliebe, Liebe zu schönen Dingen, Ideen und allem, was Spaß macht. Sie machen, dass wir uns lebendig fühlen, unvernünftige Dinge tun, Risiken eingehen, Neues ausprobieren und Spaß haben. Oder unplugged: Diese fünf Prozent sind ein Derfschein für alles mit scharf. Der ultimative Backstagepass. Warum so neutral, wenn’s auch persönlich geht? Das Wilde, Unkalkulierbare der fünf Prozent jagt Menschen nur dann Angst ein, wenn die Dinge maximal konstruiert, berechenbar und geordnet sein sollen. In meiner Arbeit gibt es drei typische Situationen, in denen gerne mal versucht wird, die fünf Prozent auszusperren. Hier sind sie: »Das hier ist die Website unseres größten Mitbewerbers, können Sie das für uns so ähnlich formulieren?« Klar kann ich. Kommt aber nur mäßig cool. Warum wollen Sie unbedingt so klingen, dass man Sie mit Ihrem Konkurrenten (nicht Mitbewerber) verwechselt? Weil die Produkte vergleichbar sind? Umso wichtiger ist es, die eigene Identität als spürbares Alleinstellungsmerkmal auszuformulieren. »Laut Marktforschung sind das unsere Kaufanreize und Typologien!« Da haben sich Produktmanager und Berater eine 200-Seiten dicke Marktforschung durchgelesen, analog dazu eine Strategie überlegt, die alle Markttreiber und Marker berücksichtigt – und dann zündet die nicht. Menno. Was fällt den Usern ein, sich anders zu verhalten, als die Mafo es vorhergesagt hat? Mafos sind gut, um eine Witterung für den Zielmarkt zu bekommen und seine Parameter kennenzulernen. Wer sich aber selbstkasteiend seine eigene Identität wegschrubbt, um da scheinbar reinzupassen, segelt haarscharf am Rezipientenbewusstsein vorbei. »Das dürfen wir so nicht sagen …« Ganz oft strapaziert, der Satz. Manchmal hat er seine Berechtigung, zum Beispiel, wenn es um Juristisches geht. UWG, irreführende Werbung, Produktdaten und sowas. Weitaus häufiger handelt es sich bei dem Einwand allerdings um vorauseilende Selbstzensur aufgrund einer fiktiven Political Correctness Denk- und Sprechpolizei. Aus Angst davor, menschlich zu wirken, authentisch und fassbar zu sein und dem User dort zu begegnen, wo er ist, nämlich nicht in einer Tortengrafik, sondern im echten Leben. In diesem Fall bitte nochmal neu überlegen. Zu clean, um wahr zu sein Ich wurde vor einer Weile mit so einem Werk konfrontiert, es ging um einen Anbieter von Klimatechnik für Privathäuser und Gewerbe. Sensibles Thema mit viel Fachchinesisch, aber auch hochemotional. Letzteres wurde leider erfolgreich eliminiert. Es entstand eine aufgeräumte, sachliche Rüberkomme, die politisch korrekt, juristisch sauber, jugendfrei und voller Google-relevanter Keywords ist. Und so unpersönlich, dass man auf der Startseite direkt vergisst, worum es eigentlich geht. Wie kann ein Text unterhalten, informieren oder gar verkaufen, der durch die Rechtsabteilung zigmal umoperiert wurde, von Produktmanagern zerpflückt und neu zusammengelötet, nochmal juristisch desinfiziert, auf Political Correctness zensiert, von Layoutern hin- und wieder zurückgeschoben und in letzter Minute vom Content Manager editiert? Am Ende sind Juristen und SEM-Manager glücklich – aber auf den User (aus dem im Idealfall ein Kunde werden soll) wirkt das Ganze so sexy wie weiße Fliesen, die nach Putzmittel duften. Was nur dann cool ist, wenn man zufällig Putzmittel verkauft. Oder Fliesen. Das, was ursprünglich an Message, Saft und Kraft drinsteckte, die fünf Prozent, die dem Auftritt Leben einhauchen, sich nach echten Menschen anfühlen, nach Liebe, Dreck und Rock’n’Roll – sie sind weg. Wenn auch nur scheinbar. Denn dieser ängstliche Desinfektionswahn, egal wie gut er in den Workflow integriert wird, erzeugt auf Dauer nur eins: resistente, äußerst hartnäckige fünf Prozent. In your face! Bei manchen Websites wirkt sich das unfreiwillig komisch aus. Plötzlich wimmelt es in dem hochseriösen Text über Klimatechnik von Tipp- und Semantikfehlern, die der Texter so nie abgeliefert hat. Die Seite ist voller Logikbrüche, es fehlen Kohärenz und Führung. Aufeinanderfolgende Sätze ergeben keinen Sinn mehr. Komische digitale Flöhe wimmeln rum, beißen und stänkern, es scheint wie verhext. Ist aber keine schwarze Magie, sondern liegt daran, dass ein durchdesinfizierter Organismus nicht lebensfähig ist. Auch kein digitaler. Natur halt. (Mir fällt da der Spruch aus den 70ern ein: »Täglich ein bisschen Dreck hält Kinder gesund.« Wenn ich mir die aseptischen Millennials anschaue, die nie im Leben ungewaschenes Obst vom Baum gegessen, in trüben Gewässern gebadet, im Freien übernachtet oder aus einem Bach getrunken haben, aber unter tausend Wehwehchen leiden, bin ich geneigt, dem zuzustimmen.) »Mooohoment«, tönt’s aus dem Off, »Dreck, Party, Rock’n’Roll? Wie soll das gehen, wir verkaufen orthopädische Schuhe mit Fußbetteinlagen.« Danke für die wunderbare Überleitung! Was Selbstfindung mit Fußbetteinlagen zu tun hat Ein Anbieter von hochwertigen Wanderstiefeln möchte qualitätsbewusste Kunden Ü30 erreichen, die laut Mafo auf Outdoor-Aktivitäten stehen. Also wirbt er damit, dass ein Paar seiner Stiefel vier Jahre am Stück getragen wurde und immer noch ganz sei. Illustriert wird diese Behauptung mit einem Vorher-Nachher-Bild sowie einer Grafik, die den schichtweisen Aufbau des Schuhwerks zeigt, das Material beschreibt, die speziell gearbeiteten Nähte, Lederstücke und Sohlen. Hightech mit lateinischen Namen, Zahlen und Fachbegriffen. (Hören Sie das? Die Fünfprozent-Gang versucht, die Tür einzutreten.) WER hat diese Stiefel so lange getragen? Und WARUM? Hat er eine Wette verloren? Konnte er sich kein zweites Paar leisten? Ist es überhaupt ein Mann? Oder eine Frau? Ach, es geht um einen ehemaligen Fondsmanager, der aus dem Business ausgestiegen ist, um seinen Burnout samt Kokainsucht zu kurieren und als Rucksacktourist zu Fuß die Welt zu erkunden? Klasse Geschichte! Wenn wir jetzt noch Bilder sehen und Details erfahren, wird’s rund. Was brachte ihn dazu? Ist er Single? Verheiratet? Kinder? Wenn ja, wie ließ sich das vereinbaren? Wie hat er seine Tour geplant? Lange vorbereitet oder spontan losmarschiert? Wo hat er übernachtet? Wen hat er unterwegs kennengelernt? Wie kam er mit dem Wetter zurecht? Wurde er mal krank? Welche Orte haben ihm besonders gut gefallen? Welche nicht? Hat ihn diese Wanderung verändert? Was hat er jetzt vor? Ja, so fühlen sie sich an, die fünf Prozent. Abenteuer, Neugier, Schweiß, Blut, Ungewissheit, Aufbruchsstimmung, überraschende Eindrücke, eine Portion »ich mach das jetzt einfach.« Natürlich hat das offiziell nichts mit den Stiefeln zu tun. Oder der patentierten Hightech-Einlegesohle. Aber es macht sie unheimlich sympathisch, erlebbar, persönlich. Immerhin waren sie die einzige Konstante bei der Tour. Treue Begleiter, die alles miterlebt haben, total abgerockt sind und bestimmt kräftig müffeln. Da kann man was draus machen! »Ach, das meinen Sie mit fünf Prozent? Wir machen einen auf rotzig?« Nein. Aseptisch motivierter Denkfehler. Die fünf Prozent sind kein Faschingskostüm! Wer versucht, sie zu faken, indem er sich verkleidet und extraflapsig oder berufsjugendlich präsentiert, geht baden. Leider ist dieses »auf rotzig machen« ein unschöner Trend im digitalen Sprachraum. Besonders wenn hochkonservative Unternehmen wie Banken oder Versicherungen sich plötzlich jo, ey! hemdsärmelig geben, ohne es zu sein. (Falls auch Sie beim Begriff »authentisch« ebenfalls reflexartig an rotziges Benehmen und schlechtes Deutsch denken, bitte entkoppeln und neu überlegen! Das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.) Die fünf Prozent lassen sich nicht durch Flapsigkeit simulieren, es gibt sie nur echt. Oder gar nicht, und dafür irgendwann als Überfallkommando, wenn man sie lange genug weggesperrt hat. Das macht sie ja so wertvoll – und so explosiv: Sie sind absolut ehrlich, mit null schauspielerischem Talent. Authentisch, wahrhaftig in ihrer Impulsivität. Also bitte nicht dem amerikanischen Credo »Fake it, don’t have it!« folgen. Ein stilvoller Schöngeist bleibt immer ein stilvoller Schöngeist, auch wenn er beim Langstreckenflug über dem Äquator in die Tüte reihert. Und ein Rauhbein will ein Rauhbein sein, auch wenn er sich zwischendurch durchaus formvollendet elegant gibt und es sogar genießt. Die fünf Prozent wollen sich zeigen dürfen und zur Kenntnis genommen werden. Sie gehören zum Leben und sind so kraftvoll, dass man sie auf Dauer weder unterdrücken noch faken kann. Zum Glück. »Lass dich nicht unterkriegen, sei frech und wild und wunderbar!« (Astrid Lindgren) PS: Natürlich habe ich meine eigenen Erfahrungen mit den fünf Prozent. Nachdem sie auch meine aufgeräumte Villa aufgemischt hatten, habe ich angefangen, diese Features stückchenweise in mein Leben zu integrieren. Und festgestellt, dass es sich damit besser leben lässt. Heute sehe ich das Heilige im Profanen, den unsichtbaren göttlichen Sinn im Sichtbaren und freue mich daran. Ich nutze die Kraft der fünf Prozent dazu, das Sein zu bereichern, zu verbessern, ohne mich schon vorher in ein bestimmtes Ergebnis zu verbeißen. Die krawallige Bande ist dabei eine super Reisebegleitung. Queen und Billy Joel singen sie immer noch. Aber das geht klar. Neulich hat einer von ihnen heimlich Debussy geübt. Am Ende werden die Jungs noch Romantiker? Text: 2017 © Kathrin Elfman. Foto: FreeImages.com George Crux #1440074 Comments are closed.
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